Reporterre (Übersetzung aus dem Französischem) | 19.08.2023 | Reportage: Klimakämpfe
In Deutschland bedroht die Beschleunigung von Autobahnprojekten den Wald von Sterkrade. Nach der hypermediatisierten Räumung Lützeraths im Januar organisieren sich Aktivisten und Bewohner neu.
5.000 jahrhundertealte, massive Bäume sollen in Sterkrade fallen. Die Stadt im Nordrhein-Westfalen beherbergt einen Wald, der 1958 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde und für seine Tierwelt und die Bewohner der Umgebung lebenswichtig ist. Über 150 Jahre alte Rotbuchenbestände stehen neben Hainbuchen, Roteichen, Erlen, Bergahorn und Waldkiefern sowie seltenen Tierarten wie dem Feuersalamander. “Ich gehe hier oft mit meinem Hund spazieren und dieser Wald ist mir sehr wichtig, da wir in der zweitdichtesten bebauten Gegend Deutschlands leben”, sagt Renata, eine Einwohnerin aus der Umgebung.
In den Jahren 1936-1938 wurde der Wald durch eine Autobahn in zwei Hälften geteilt. Im Jahr 1958 wurde der Wald durch einen neuen Autobahnanschluss in vier Teile zerschnitten. Jetzt bedroht eine Erweiterung um mehrere zusätzliche Fahrspuren fast fünfzehn Hektar des geschützten Gebietes. Der Bundesverkehrsminister Volker Wissing kündigte an, dass 144 Autobahnprojekte im Land beschleunigt werden sollen, und sorgte damit für Empörung. Das Autobahnnetz auf der anderen Seite des Rheins ist mit über 13.000 km Asphalt bereits das viertlängste der Welt.

“Irgendwann muss man sagen: Stopp all diese Projekte, die sich seit Jahren in unserer Stadt ansammeln und uns unsere Grünflächen wegnehmen”, bekräftigt Virginia, die mit ihrer Freundin Renata auf einem von Umweltaktivisten organisierten Spaziergang durch den Wald begleitet. Die beiden 60-jährigen Einwohnerinnen Sterkrades halten ein Schild mit der Aufschrift “Sterki Bleibt” in die Höhe, ein Echo auf die vergangenen rheinischen Kämpfe. Der Hambacher Forst, der Dannenröder Wald und Lützerath, die alle nur eine Autostunde entfernt liegen, haben in den letzten Jahren viel Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen. Tausende von Umweltschützern hatten dort Baumhäuser gebaut, um Autobahnprojekte oder Kohleabbau zu stoppen.
Auf dem Weg zu einer neuen Waldbesetzung im Rheinland?
Jetzt wünschen sich Renata und Virginia, dass in Sterkrade eine “Waldbesetzung” eingerichtet wird, wie die “zones à défendre” (zad) auf der anderen Seite des Rheins genannt werden. Linda Kastrup, eine junge Umweltaktivistin aus der Region, schränkt ein: “So weit sind wir noch nicht. Im Moment ist es unser Ziel, uns mit anderen Umweltaktivisten und -organisationen zu verbünden, um bereit zu sein, wenn die Zeit gekommen ist, um zu mobilisieren.” Die Aktivisten haben noch keine Baumhäuser gebaut, schließen die Idee aber nicht aus, ohne jedoch ihre Aktionspläne offenzulegen.

Linda Kastrup sitzt zwischen zwei Zelten mit Umweltschutz-, Queere- und Antifa-Flaggen, die auf einem kommunalen Fußballplatz am Rande des Waldes errichtet wurden. Etwa zwanzig von ihnen haben dieses Klimacamp errichtet, um den ganzen Juli über auf ihre Sache aufmerksam zu machen. Selbstverwaltete Küche, Kulturprogramm mit Vorträgen und Konzerten: Hunderte von Menschen aus ganz Deutschland sind angereist, um diesen neuen Kampf kennenzulernen.
Während die ersten Baumfällungen in Sterkrade laut den Aktivisten Anfang 2024 stattfinden könnten, entsteht gerade ein breites Bündnis, das Naturschutzverbände wie den BUND oder den Nabu sowie Bürgerinnen zusammenbringt. “Wir hoffen, dass wir durch die Bildung solch breiter Allianzen diese Autobahnprojekte stoppen können”, sagt Linda Kastrup. “Jeder muss sich im Kampf wiederfinden können: Man kann sowohl Kuchen mitbringen und bei einer Tasse Tee diskutieren als auch an den militanteren Aktionen teilnehmen.” Das war ihrer Meinung nach die wichtigste Lehre aus Lützerath, der “Zad im rheinland”, die bei ihrer Räumung im Januar hypermedialisiert wurde.

Von Kohlgruben zu Autobahnen
Der ehemalige Bauernhof Lützerath, der nur eine Stunde von Sterkrade entfernt liegt, war zum Symbol des deutschen Umweltwiderstands gegen den Appetit der Bergbauindustrie geworden. Die Zad hatte drei Jahre lang gehalten, bevor sie im Januar geräumt wurde. Als 8.000 Polizisten das Gelände stürmten, war ihr Schicksal besiegelt: Wasserwerfer, Kavallerie und Spezialeinheiten schlugen die Entschlossenheit der Umweltaktivistinnen, die sich der Gewaltlosigkeit verpflichtet hatten, nieder. Heute sind die mittelalterlichen Bauten von der Kohlemine Garzweiler 2 verschluckt worden und nur einige Schilder, Graffiti und Sticker in den umliegenden Dörfern zeugen von den erbitterten Kämpfen in Schlamm und Regen.
Vor drei Jahren gehörte Linda Kastrup bereits zu den Organisatoren der Waldbesetzung Lützerath. “Sie können ein Dorf räumen, aber nicht eine Bewegung”, lächelt sie. “Unsere Ideale hängen von keinem Ort ab, wir tragen sie weiterhin laut und deutlich vor uns her und schaffen neue Orte des Kampfes.” Im Klimacamp in Sterkrade hat fast jeder in Lützerath mitgemacht – sogar die Trockentoilette, die vor der Zerstörung gerettet wurde. “Früher mussten wir gegen Kohlgruben kämpfen, heute gegen Autobahnen – klimaschädliche Projekte nehmen überall zu”, sagt Linda. Das Camp könnte somit das Erbe von Lützerath antreten, auch wenn einige sich weigern, den Kampf um die ehemalige Zad aufzugeben, während andere im Gegenteil ihre Taktik ändern wollen, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.

Einige Aktivisten halten sich in der Umgebung von Lützerath auf, um das zu retten, was noch sein kann: die Straße L12 und einige Windräder, die ebenfalls von der Kohlgrube verschluckt werden sollen. Andere versuchen Sabotageaktionen gegen Bagger oder greifen die Parteibüros der Grünen mit Farbe an. Ihnen wird vorgeworfen, die Ökologie verraten zu haben, seit Minister Robert Habeck die Zerstörung von Lützerath zugunsten eines beschleunigten Kohleausstiegs genehmigt hat. Auch in der Nordsee gibt es eine wachsende Fronde von Aktivisten gegen geplante Erdgasterminals.
Neue Front, neue Taktik?
Was die Einrichtung einer neuen rheinischen Zad in Sterkrade betrifft, so ziehen es einige vor, vorsichtig vorzugehen. “Ich nehme bei vielen Aktivisten eine Art Orientierungsverlust wahr: man vervielfältigt die Kämpfe, ohne sich auf eine Sache zu konzentrieren”, sagt Dina Hamid, ehemalige Sprecherin des Kollektivs Lützerath Lebt, während sie unter einem Baum am Eingang des Camps in Sterkrade einen Kaffee trinkt.

Wie viele andere brauchte sie einige Monate, um sich von der Räumung und Zerstörung Lützeraths im Januar zu erholen, so sehr war er zu einem liebenswerten, warmen, utopischen Ort geworden: “Wir müssen weitergehen, das ist klar. Aber ich frage mich, ob die Lösung darin besteht, Waldbesetzungen zu vervielfachen, auf die Gefahr hin, dass wir unsere Mittel und unsere Energie zu sehr zerstreuen”.
Wie soll es angesichts der vielen Fronten weitergehen? Das große Kollektiv Ende Gelände organisierte Anfang August das Klimacamp System Change (“Systemwechsel”) in der Nähe einer Waldbesetzung in Hannover. Das Ziel: Es sollte zu einer “Taktikkonferenz” der Klimabewegung werden, so Rita Tesch, Sprecherin des Kollektivs: “Wir wollen der Bewegung neues Leben einhauchen, denn obwohl wir in den letzten Jahren viele Taktiken ausprobiert haben, müssen wir feststellen, dass wir angesichts des Klimawandels und der sich beschleunigenden Repression neue Ideen brauchen.”
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